Bildung

Rechtliche Aspekte

Eltern von Kindern, deren Entwicklung im Rahmen der "Norm" verläuft, stellen die Frage nach der geeigneten Bildungseinrichtung für ihr Kind in der Regel erst dann, wenn es um den Besuch einer weiterführenden Schule geht. Der Kindergarten und die Grundschule werden in den meisten Fällen vor Ort besucht, häufig gemeinsam mit anderen Kindern aus der Umgebung. Diese Selbstverständlichkeit gilt für Kinder, die man geistig behindert nennt, in Deutschland nicht. Bereits im Kindergartenalter müssen Eltern entscheiden, ob das Kind eine heilpädagogische Einrichtung, einen integrativen Kindergarten oder einen Regelkindergarten besuchen soll. Das deutsche Bildungssystem sortiert Kinder nach ihren kognitiven Fähigkeiten, meist ab der fünften Klasse, in unterschiedliche Schultypen oder Lerngruppen ein. Kinder mit Behinderungen werden noch früher, oft schon im Vorschulalter, von ihren Altersgenossen getrennt und sonderpädagogisch betreut. Bei schulpflichtigen Kindern wird zunächst der sonderpädagogische Förderbedarf festgestellt. Abhängig von der Art und der Anzahl der vorhandenen Bildungseinrichtungen haben Eltern anschließend – zumindest theoretisch – die Wahl zwischen einer Förderschule oder eine Regelschule mit gemeinsamem Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern. Da Bildung Ländersache ist, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen des integrativen Unterrichts nicht einheitlich. Wie deren konkrete Umsetzung in den jeweiligen Bundesländern gehandhabt wird, kann unter http://www.behinderung.org/gesetze/intgestz.htm nachgelesen werden. Der Diskussion in unserem FORUM ist indes zu entnehmen, dass integrative Beschulung in einigen Bundesländern nur sehr schwer zu realisieren ist. Von den bürokratischen Hürden und der ablehnenden Haltung etlicher Pädagogen wissen viele Eltern Fragiler-X-Kinder nur allzu gut zu berichten. 

Theoretisch dargestellt werden die entsprechenden rechtlichen Aspekte in den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz im Rahmen ihrer "Empfehlungen zu den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung", deren Wortlaut unter den folgenden Dateien abrufbar ist. 

Pädagogische Aspekte

Integration und Inklusion

Die beiden Ziele, die wir in dieser Online-Broschüre zu realisieren versuchen, nämlich wertneutrale Information einerseits und Wissenschaftlichkeit andererseits, erweisen sich im Hinblick auf das Thema Bildung als nicht vereinbar. Integration und Sonderbeschulung als gleich-wertig und gleich-wertvoll darzustellen, hieße, wissenschaftliche Erkenntnisse der Neurobiologie ebenso wie pädagogische Studien schlicht zu ignorieren:

 

"Es gibt Untersuchungen zur Wirksamkeit der integrativen Förderung von lernbehinderten Schülern. Und es ist internationales Forschungsergebnis, dass die lernbehinderten Schüler in allgemeinen Schulen in ihren Leistungen besser gefördert werden als auf jeder Förderschule. Es gibt nicht eine einzige seriöse, wissenschaftliche Untersuchung, die eine höhere Lernwirksamkeit der Förderschule belegt. […] Wenn es nach Wissenschaft ginge, müsste die Förderschule von heute auf morgen geschlossen werden."

 

So kommentierte der Erziehungswissenschaftler Prof. Hans Wocken in einem Beitrag der Sendung Monitor vom 24. April 2008 die derzeit übliche "Bildungsselektion made in Germany". Der Kontext, in dem Prof. Wocken diese Bewertung abgibt, kann ebenso wie der gesamte sehr sehenswerte Beitrag mit dem Titel "Aussonderung von Kindern in Förderschulen" angeschaut werden unter http://www.wdr.de/themen/global/webmedia/webtv/getwebtvextrakt.phtml?p=400&b=027&ex=5

Ein weiterer interessanter Artikel, der den "Schonraum" der Förderschulen und dessen "pädagogische Folgen" als "erschreckend" bezeichnet, ist in der Ausgabe Nr. 35 / 2007 der Wochenzeitschrift "Die Zeit" zu lesen: http://www.eine-schule-fuer-alle.info/downloads/13-62-154/DIE%20ZEIT23.8.2007.doc.

Wenn daher Eltern von Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung die Frage stellen, ob eine integrative Bildungseinrichtung einer Förderschule vorzuziehen sei oder umgekehrt, liegt der Schluss nahe, dass man sich – aus wissenschaftlich-pädagogischen Gründen – klar für eine konsequente Integration der Kinder aussprechen sollte. Viele Informationen und weitere Links, die diese Haltung begründen, findet man unter http://www.eine-schule-fuer-alle.info/.

 

Heilpädagogische und sonderpädagogische Bildungseinrichtungen

Diese eindeutige Haltung für Integration muss allerdings vor dem Hintergrund gesehen werden, dass dieses Ideal der Integration bzw. der Inklusion in unseren Bildungs- und Freizeiteinrichtungen in vielen Fällen nur äußerst schwer zu realisieren ist, und dass es aufgrund der Rahmenbedingungen – nicht aufgrund des Gendefektes – häufig in der Praxis geboten und nötig sein kann, ein Kind mit Fragilem-X-Syndrom in Fördereinrichtungen zu betreuen und zu unterrichten. Gerade die Gründe, aus denen sich Eltern – schweren Herzens oder aus Überzeugung – gegen Integration und für den "Schonraum" der Sondereinrichtungen entscheiden, legen den Finger in die Wunden unseres Bildungssystems, indem sie zu Recht darauf hinweisen, weshalb eine Regelschule für Kinder mit (und ohne) Behinderungen oft problematisch ist: Zu große Klassen, zu wenige Pädagogen und vor allem schlechte Rahmenbedingungen für individuelle Förderung kennzeichnen unsere Regelschulen. Ein System, in dem schon viele normalbegabte – und sogar hochbegabte – Kinder auf der Strecke bleiben, scheint in der Tat ungeeignet zu sein, Kinder mit besonderen Bedürfnissen ihren Fähigkeiten entsprechend zu unterrichten und zu bilden. Wir möchten an dieser Stelle Wilfried Wagner-Stolp zu Wort kommen lassen. Der Sonderpädagoge, Diplom-Sozialpädagoge und Logopäde bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. in Marburg formuliert treffend:

 

"Selbst in der "Behindertenszene" finden sich Menschen mit geistiger Behinderung nur zu oft am unteren Ende der Klassengesellschaft. Während Eltern körper- oder sinnesbehinderter Kinder oft ihre Freude an intellektuellen oder schulischen Leistungen ihrer Kinder haben, müssen Eltern geistig behinderter Kinder lernen umzudenken. Sie sind gezwungen, ihr bisheriges gesellschaftlich vermitteltes Wertesystem in Frage zu stellen und sich mit grundlegend veränderten Zukunftsperspektiven ihres Kindes zu arrangieren. Die größte Sperre dabei sind die Ängste, Zweifel und Vorurteile im eigenen Kopf. Und das gesellschaftliche Klima, in dem immer neue Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen und die Sterbehilfe diskutiert werden, macht es schwer, ein Kind zu akzeptieren, das sich so radikal vom gesellschaftlichen Leitbild des idealen Kindes unterscheidet. […] Die Eltern geistig behinderter Kinder erwarten eine offene, solidarische Gesellschaft, die bejaht, dass Menschen sehr verschieden sind und sein dürfen. Der soziale Ausschluss von Menschen mit Behinderung muss von Anfang an vermieden werden. Denn wo Teilhabe im Ansatz gelingt, da muss später nicht (re-)integriert werden. Begegnung zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen zu ermöglichen und zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen – dieser Weg kann am ehesten zum Abbau von Vorurteilen, zum Schließen der Schere in den Köpfen der Menschen beitragen. Gleichwohl wäre es höchst unpolitisch, dabei stehen zu bleiben und sich nicht in den Diskurs darüber einzuschalten, wie sozial unser Land heute und morgen sein will, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen. Dazu brauchen wir einen Gegenentwurf zu dem von Wirtschafts- und Finanzinteressen beförderten Modell der "neuen sozialen Marktwirtschaft". Reden wir Klartext. Dem Land der Exportweltmeister stünde es gut zu Gesicht, sich konzeptionell auch in der Behindertenhilfe Richtung Spitze zu bewegen und hinsichtlich der professionellen Hilfeangebote und der Gewährung von Unterstützung stärker als bisher an den skandinavischen Ländern Norwegen und Schweden zu orientieren."

Der gesamte Beitrag von Wagner-Stolp (2006) ist nachzulesen unter http://www.lebenshilfe.de/wDeutsch/aus_fachlicher_sicht/downloads/sehrnormalund.pdf

Integration - Utopie oder Vision?

Die Schilderung der folgenden Begebenheiten stimmen nachdenklich und unterstreichen eindrucksvoll, wie zutreffend die Ausführungen von Wilfried Wagner-Stolp sind und wie sehr die "Schere in den Köpfen der Menschen" auch heute noch weit offen steht. Ein Plädoyer für Integration muss daher wohl ebenso vehement die Erziehung zur Toleranz und zum gegenseitigen Respekt einfordern – und zwar bei Kindern und Erwachsenen. Bleibt der Integrationsgedanke ein Wunschgedanke? Albert Einstein bemerkte sehr weise, es sei "leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil". Die folgenden Geschichten geben auch ihm Recht:

 

Geschichte Nr. 1:

Einige junge Mütter besuchen mit ihren Babys eine Pekip-Gruppe. Eines Tages erreicht die Mitglieder dieser Gruppe eine Anfrage einer anderen Mutter: Diese Frau würde gerne gemeinsam mit ihrer Tochter, die mit dem Down-Syndrom geboren wurde, an der Pekip-Gruppe teilnehmen. Zwei Mütter der schon bestehenden Gruppe sagen der Leiterin, dass sie das nicht möchten. Wir schreiben das Jahr 2003 nach Christus. Ort der Handlung ist eine Stadt in Deutschland.

 

Geschichte Nr. 2:

Ein kleiner Junge, bei dem das Fragile-X-Syndrom diagnostiziert wurde, besucht mit seinen Eltern einen Familien-gottesdienst. Eine Musiklehrerin hat mit einer Kindergruppe, zu der auch der kleine Junge gehört, diesen Gottesdienst musikalisch vorbereitet. Als der Pastor die Kinder zum Musizieren nach vorne bittet, hört der Junge seine Musikpädagogin zu ihm die Worte sprechen: "Nein, du nicht…" Diesmal schreiben wir das Jahr 2008; auch diese Begebenheit spielt in Deutschland. Das Thema des Gottesdienstes lautet: "Du bist keine Nummer." ...

Es gibt indes auch positive Beispiele. Wenige - viel zu wenige - Inseln, auf denen die scheinbare Utopie Wirklichkeit wird. Es gibt Menschen - Kinder, Eltern, Pädagogen, Menschen mit und ohne Behinderung - die sich unermüdlich dafür einsetzen, dass diese Inseln entstehen und zeigen, dass Integration gelingen kann. Wir möchten diesen Beitrag unter der Überschrift "Bildung" mit einem solch positiven Beispiel abschließen: Der Film "Klassenleben" von Hubertus Siegert aus dem Jahre 2005 (die Dreharbeiten fanden 2004 statt) dokumentiert das Schul- und Unterrichtsleben einer integrativen Schulklasse der Berliner Fläming-Schule. Unter http://www.klassenleben.de kann man sich Filmausschnitte ansehen und findet zahlreiche interessante Hintergrundinforma-tionen zum Film. Die entsprechende DVD kann dort bestellt werden. Vorab seien einige Pressestimmen zitiert, die neugierig machen und verdeutlichen, dass die Zeit vielleicht bald reif ist - nicht nur für die Vision, sondern für die Verwirklichung vieler solcher Inseln:

"(...) Hubertus Siegert zeigt eine Welt, wie sie sein sollte, ohne darum groß Aufhebens zu machen – nicht als Utopie, sondern als Möglichkeit. Er zeigt die Kinder beim Streiten und beim Freundesein, beim Lernen und Begreifen, zeigt sie in ihrer Grobheit und Zartheit. Dass die einen behindert sind und die anderen nicht, spielt keine Rolle – weil es für die Kinder selbst keine Rolle spielt.(...)" DIE ZEIT

"Manchmal hat dieser Film fast utopisch schöne Momente – wenn er zeigt, wie Lehren und Lernen als kommunikativer Prozess funktionieren kann und als wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen gesunden und behinderten Kindern. Hubertus Siegert zeigt zudem ohne jedes Pathos, mit wie vielen Schmerzen, bitteren Erfahrungen und Konflikten es verbunden ist, die Kindheit hinter sich zu bringen; manchmal wirken die Kinder rührend, mitunter auch ziemlich lustig, öfter noch tragikomisch. (...) Dieser Schule und ihrem Exempel ein filmisches Denkmal zu setzen, war ein richtiges und wichtiges Unterfangen." SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

"Hubertus Siegerts einfühlsame Beobachtungen kommen ohne Kommentar aus, nur die Kinder reden aus dem Off übers ‚Klassenleben’. Wer bisher glaubte, das zeitige Sortieren der Kinder nach Leistung sei der einzige Weg zu besseren Ergebnissen, dürfte nach diesem Film ins Grübeln kommen." LEIPZIGER VOLKSZEITUNG

http://www.klassenleben.de/download/pdf/PH_Klassenleben.pdf

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